NEWSLETTER #11 zum Frühjahr 2018 |
Wolfgang Weigand, Rituale & Coaching |
Aus dem Inhalt:
● Zum Frühling: Grenzen und Neubeginn
● Gedanken zu L(i)eben und Sterben
● In eigener Sache
Frühlingsgedicht
Noch ist die Musik nicht
erklungen
aus sich neigender Stille
Noch warten die Vögel verzagt
auf nasskalten Ästen
Noch sind die Krokusse verborgen
unter letzten Schneekristallen
Noch sind die glücklichen Tage gezählt
wie seltene Wunder
der Stuhl am Morgen neben mir
ist leer
und die traumlosen Nächte sind lang
unter dem Dickicht
Aber ein Silberstreif ist schon da
draussen am Horizont
irgendwo weit weg von hier
Und er durchzieht
meine Gedankenwelt
wie ein dünner Faden
der die ganze Welt umspannt
voller Hoffnung
und Auferstehung
(wolfgang weigand)
Lieber Leser, liebe Leserin dieses Newsletters
Grenzgänger
und Überschreitungen
Grenzgänger sind normalerweise Menschen, die über eine Staatsgrenze hinweg
pendeln, um im Gebiet jenseits der Grenze zu arbeiten oder eine Ausbildung
zu machen. Man nennt sie manchmal auch Alltagsmigranten.
Als Grenzgänger bezeichnet man in der Risikoforschung oder auch in der
Unterhaltungsliteratur Menschen, der sich bewusst auf dem schmalen Grat
zwischen Leben und Tod bewegen. Wir kennen die Geschichten von
Extremsportlern: der Höhenbergsteiger Reinhold Messner, der
Fallschirmspringer Felix Baumgartner verstehen sich als professionelle
Grenzgänger. Ueli Steck, der Schweizer Extrembergsteiger, hat es wie viele
andere nicht überlebt.
Manche Menschen sind sogar Grenzgänger zwischen Extremen: ihre Gefühle
können innerhalb von Minuten zwischen Liebe und Hass, Euphorie und
Depression, Selbstzweifeln und Selbstüberschätzung pendeln. In der
psychologischen Fachsprache spricht man von Borderline-Störungen.
Grenzen setzen ist im Leben einer der anspruchsvollsten Aufgaben: sinnvolle
Grenzen für sich selber, aber auch das Nein-Sagen und damit das Grenzen
setzen für andere – zum Beispiel in der Partnerschaft oder in der
Arbeitswelt. Für Grenzen einstehen bedeutet, das Gegenüber ernst zu nehmen,
sich nicht von der Angst vor Ablehnung leiten zu lassen, selbstbewusst zu
erkennen, was wichtig und wesentlich ist. Oder anders formuliert: sich
seiner Grenzen bewusst zu sein, die Konturen geben, Prioritäten erkennen,
den Blick auf Potenziale freigeben und sich in einem Raum von Sicherheit
und Identität bewegen lassen.
In der Globalisierung werden zunehmend Grenzen abgebaut, Wirtschaftsräume
immer durchlässiger. Für den einzelnen Menschen wird die Fähigkeit, sich
als abgegrenzt und gleichzeitig mit der Umgebung verbunden zu erleben,
immer wichtiger. An den Grenzen findet Kontakt statt und Beziehung, wie wir
es aus dem gestalttherapeutischen Konzept der Kontaktgrenze (Jack Lee
Rosenberg u.a.) kennen.
Von Grenzgängern in einem anderen Sinn erzähle ich in meinem neuen Buch. Es
geht um Menschen, denen bisweilen Banales widerfährt, das sie aber aus der
Fassung bringt. Es sind Liebende oder Suchende, die ihr Gleichgewicht
verlieren – oder es manchmal auch auf überraschende Weise wieder finden.
Und es sind Hoffende, die an ihre Grenzen kommen oder vom Schicksal
herausgefordert werden, weiter als bisher gewohnt zu gehen oder zu träumen,
jenseits aller moralischer Bewertungen und Schubladen. Und dann blühen sie
wieder richtig auf – wie Blumen im Frühling. Oder wie Grenzen, an die man
stösst und die dann „einen Weg für die Träume offen lassen“, wie es in
einem altirischen Segensspruch heisst.
Ich wünsche Dir, Euch und Ihnen ein gutes Erwachen aus den Grenzen des
Winters, mit viel neuem Schwung, Gelassenheit, Vertrauen und dem stillen
Wissen: Es wird wieder Sommer werden. Der Winter wächst über sich hinaus –
und wir dürfen dies manchmal auch tun!
Herzlichst
Wolfgang Weigand
Von bedingungsloser und „begrenzter“ Liebe
In einem früheren Newsletter habe ich das Konzept der „zwei
Ordnungen der Liebe“ bei John Welwood vorgestellt. Die bedingte
Liebe (2. Ordnung) ist in bestimmten Formen und Strukturen einer
Beziehung zu finden und beinhaltet äußerlich wahrnehmbare
Eigenschaften von Körper, Temperament, Persönlichkeit, emotionale
Bedürfnisse, Wertvorstellungen und Überzeugungen, Vorlieben und
Abneigungen. Diese Liebe, so könnte man sagen, bezieht sich nicht
auf den Kern einer Person, sondern auf deren (sicht- und fühlbaren)
Schale. Das eigentliche Wesen dieser Person berührt sie nicht. Die
bedingungslose Liebe (1. Ordnung) dagegen bezieht sich auf den
Wesenskern einer anderen Person. Sie ist einfach da, benötigt keine
bestimmte Beziehungsform oder Definition – und die Gründe dafür sind
uns nicht bewusst. Nach dieser bedingungslosen Liebe sehnt sich wohl
jeder Mensch.
In ihrem Buch „Grenzen der Liebe – Nähe und Freiheit in
Partnerschaft und Liebe“ plädieren der bekannte Paartherapeut Hans
Jellouschek und seine Frau Bettina dafür, in der Liebe immer wieder
Grenzen zu setzen, weil sie nur dann echt sein kann und beglückend
für die, die wir lieben. Sie sprechen von „Hoheitsgebieten“ der
Persönlichkeit: unser Körper, aber auch Eigenschaften, Gefühle,
Überzeugungen, geschichtliches „Geworden-sein“ wie Prägungen,
Erfahrungen usw. Wenn wir eine Liebesbeziehung eingehen, so
verändern wir unsere Grenzen um diese „Hoheitsgebiete“: wir geben
sie hoffentlich für den geliebten Menschen nicht auf, aber wir
öffnen und erweitern sie. Sich selber nicht verlieren, also sich
treu bleiben, und gleichzeitig dennoch immer wieder dem Anderen, der
zu mir „dazugehören“ möchte, neue Räume zu eröffnen, das ist die
Kunst der Liebe, das Spannungsfeld vielleicht auch zwischen
Grenzziehungen und Bedingungslosigkeit. Um Grenzen ziehen zu können,
muss man sich zuerst einmal seiner eigenen Bedürfnisse bewusst
werden. Das klingt banal einfach, und ist doch manchmal so schwer.
Und dennoch sehr wesentlich: „Nur was begrenzt ist, lässt sich
füllen“, so sagt Wilhelm Schmid, der Philosoph der Lebenskunst.
In den kommenden Frühlingstagen werden manchmal nicht nur die Häuser
geputzt und Winter- und Sommersachen neu verräumt bzw. in den Keller
verbannt, sondern manchmal gibt es auch innere Aufräumaktionen: was
brauche ich noch, was nicht mehr? Wo ersehne ich mir mehr Klarheit
und Grenzen, wo vielleicht mehr Raum zum Dazwischen oder einfach für
mich? Ich wünsche Dir, Euch und Ihnen beides: die Erfahrung von
Bedingungslosigkeit in der Liebe, aber auch das Vertrauen darauf,
immer wieder Grenzen ziehen zu dürfen, vielleicht auch wieder mal
neu definieren oder verschieben. Ja, seien wir begrenzt, immer
wieder, und lassen wir uns füllen - nicht nur in den Frühlingstagen!
…und von der
Lebensreise
In einem Zugabteil sitzen sieben Reisende. Ein Hippie, ein
Liebespaar, ein junger, gleichgültiger Mann, ein alter Zyniker, ein
lebensfroher Geniesser, eine Nonne. Sie schauen sich an oder aus dem
Fenster, dösen vor sich hin, rauchen, beten, lesen. Dann kommt ein
Tunnel, es wird dunkel. Und als der Zug wieder herausfährt, fehlt
die junge Frau. Nur ihr Schminkkoffer ist noch da. Und so geht es
bei jedem Tunnel: immer fehlt eine weitere Reisende, sobald der Zug
einen Tunnel wieder verlassen hat, obwohl alle Fenster verschlossen
sind und auch die Türen sich nicht öffnen lassen. Selbst die
Notbremse funktioniert nicht. Es wird dunkel, und es wird hell,
immer wieder, bis nur noch zwei Männer im Abteil sitzen, sich
unsicher in die Augen sehend: wer wird der Nächste sein?
Der bereits 1972 gedrehte kroatische Kurzfilm „Putovanje“ (deutsch:
„Die Reise“) von Bogdan Žižić zeigt, wie zeitlos der Umgang der
Menschen mit dem Tod ist. Die Auseinandersetzung mit der eigenen
Endlichkeit ist eine wichtige Erfahrung im Leben eines Menschen, die
alle Generationen vereint und alle Religionen der Welt beschäftigt.
Und natürlich stellt sie auch die Frage, was wir der Welt
hinterlassen, wenn wir sie verlassen.
Vor zwei Wochen durfte ich einen älteren Mann beerdigen, dessen Frau
auch schon längst aus dem Zug ausgestiegen war. Er fuhr früher oft
mit seinem Generalabonnement in der ganzen Schweiz herum, von A nach
B, und dann weiter nach C, und dann wieder zurück, einfach so, ohne
Ziel, immer ohne Lektüre, aus dem Fenster blickend und die
vorbeiziehenden Landschaften in sich aufnehmend. Jetzt war er müde
geworden und freute sich auf seine Endstation. Endlich
angekommen auf seiner Reise…. Ist das Wort endlich deswegen
Bestandteil von Endlichkeit? Bei der Abschiedsfeier für ihn
zitierte ich Martin Buber: Alle Reisen haben eine heimliche
Bestimmung, die der Reisende nicht ahnt.
Es ist schön, unterwegs zu sein. Und anzukommen. Beides gehört zum
Leben. Und vielleicht auch zum Sterben. An der Endstation bleibt der
Zug ja nicht stehen, sondern fährt weiter – mit dem, was von uns
bleiben wird.
In eigener Sache:
Mein neuer Erzählband «Grenzgänger – Erzählungen auf der Kippe»
ist wieder bei Königshausen & Neumann (Würzburg/D) zum Frühjahr
2018 hin erschienen. Näheres zum Inhalt sowie zu Lesungen findet sich
direkt
hier.
Die
Premiere-Lesung findet statt am
Freitag, 20. April 2018, 19.30 Uhr, im Kellergewölbe am
Oberen Graben 2, Winterthur. Anmeldung (da begrenzte
Platzzahl) unter
info@senza-kompetenz.ch oder
052 212 23 60 möglich.
PS: Am
Donnerstag, 27. September 2018, lese ich wieder im
Parterre 33 in St. Gallen. Anmeldungen
dort sind über
reservation@parterre33.ch
möglich.
Weitere Lesungen sind in Planung und werden auf
www.schritte.ch
aufgeschaltet.
Café Goodbye
Am 27. Mai 2018
wird die Ärztin und Gründerin der Lebens-Sterbehilfe-Organisation „life circle“,
Dr. med. Erika Preisig, unser besonderer Gast sein. Sie kommt mit
dem Publikum ins Gespräch zum Thema
"Wegfindung zwischen Palliativmedizin, Sterbefasten und begleitetem
Freitod".
»
Der Flyer zum Café Goodbye
Türöffnung ist, im Bistro Dimensione an der Neustadtgasse 25 in Winterthur,
wie immer um 9.00 Uhr, um 9.30 Uhr wird dann das Café Goodbye
beginnen. Sie sind herzlich eingeladen!
Impressum:
Wolfgang Weigand
Rituale & Coaching
Oberer Graben 2
CH-8400 Winterthur
044 941 00 59
079 359 56 46
mailto:w.weigand@schritte.ch
www.schritte.ch
www.abschiedsfeiern.ch |